Dop­pel­mo­ral: Von Elon-Jün­gern und Musk-Moralisten

09.01.2023

In den letz­ten Wochen gab es eine Kon­stan­te in der Öffent­lich­keit: die Kri­tik an Elon Musk nach der Über­nah­me von Twit­ter. Wie rück­sichts­los er mit Mit­ar­bei­ten­den umgeht. Was für ein Geba­ren er pflegt. Was für Ideen er hat, negiert, ver­wirft. Und was für eine Unsi­cher­heit er Twit­ter beschert. Alles rich­tig. Doch in die­sen Dis­kus­sio­nen steckt eine Dop­pel­mo­ral. Nicht, dass ich Musk ver­tei­di­gen will. Aber vie­len Men­schen möch­te ich ger­ne zuru­fen: „Das ist doch alles schon lan­ge bekannt, dam­ned!“ Ein Gedan­ken­spiel als Anstoß für ein bes­se­res Jahr 2023.

Vor genau einem Jahr wähl­te das Time-Maga­zin Elon Musk zur „Per­son of the Year.“ Ein Jahr spä­ter zählt er zu den meist­ge­hass­ten Per­so­nen des Inter­nets. Oder zumin­dest der Social-Media-Bla­sen – spe­zi­ell bei uns. Denn Mas­sen-Ent­las­sun­gen, Team-Raus­schmis­se, Zorn-Aus­brü­che, Zick­zack-Kur­se, Dau­er-Wider­sprü­che pflas­tern sei­nen Weg, seit­dem er mehr oder weni­ger erzwun­gen Twit­ter über­nom­men hat. Ja, genau die­se Platt­form, die in Deutsch­land mit 4 Pro­zent Dai­ly Usern ein Stief­müt­ter­chen-Dasein fris­tet und in deren Bla­se sich vor allem Medi­en, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­leu­te, News-Jun­kies und etwas Poli­tik und Wis­sen­schaft tum­meln. Wie kam es zu die­sem Absturz?

Wirk­lich neu? Nein.

Bei all den – berech­tig­ten – Vor­wür­fen der letz­ten Wochen hat­te ich oft das Gefühl, all dies schon mal gehört bzw. gele­sen zu haben. Und richtig:

„Er ist weni­ger ein CEO auf der Jagd nach Reich­tum als ein Gene­ral, der sei­ne Trup­pen zum Sieg kommandiert.“

Buch von Ashlee Vance über Elon Musk
Buch von Ash­lee Van­ce über Elon Musk aus dem Jah­re 2015

Die­ses Zitat stammt nicht von heu­te. Son­dern aus der Bio­gra­fie „Elon Musk“ des süd­afri­ka­ni­schen Jour­na­lis­ten Ash­lee Van­ce. Aus dem Mai des Jah­res 2015 und damit mehr als 7 Jah­re alt. Also habe ich mir das Werk zwi­schen den Jah­ren noch­mals vor­ge­nom­men. Übri­gens kein Geheim­tipp: Ein Spiegel-Bestseller.

Gene­ral Musk und sei­ne Truppen

Dre­hen wir dazu die Zeit etwas zurück:

„Seit mitt­ler­wei­le zwei Jahr­zehn­ten ist Musk als Unter­neh­mer tätig und in die­ser Zeit hat er eine Spur von Men­schen hin­ter sich gelas­sen, die ihn ent­we­der bewun­dern oder verachten.“

Van­ce beschreibt Musk als Visio­när, der unse­rer Zeit oft vor­aus war und ist. Zurecht. Wer sich die Lis­te der Zukunfts­pro­jek­te durch­liest, an denen er betei­ligt ist, trifft ganz aktu­ell auf die Non-Pro­fit-Initia­ti­ve Ope­nAI. Damit hat Elon Musk zusam­men mit Micro­soft genau die­sen Chat­bot finan­ziert, mit dem wir gera­de alle spie­len und Tex­te – aber nicht die­sen hier! – schrei­ben lassen.

Dies ist nur eines sei­ner Zukunfts­pro­jek­te. Wie sag­te sei­ne Ex-Frau Jus­ti­ne über ihn doch so kennzeichnend:

„Er tut, was er will, und dabei ist er gna­den­los. Es ist Elons Welt und der Rest von uns lebt auch darin.“

Ihr Zitat macht deut­lich: Elon Musk ist ein Ego­ist, ein Beses­se­ner, ein Macht­mensch, ein rück­sichts­lo­ser Wirt­schafts­boss, aber auch ein Vor­den­ker, ein Macher, ein Hard Worker, ein Mann ohne Kom­pro­mis­se, ein lei­den­schaft­li­cher Ver­rück­ter, ja, ein von sich selbst Gehetz­ter. Ein Feld­herr, der in sei­nen Mit­ar­bei­ten­den übri­gens sei­ne haus­ei­ge­nen Trup­pen sieht, zumin­dest für die Zeit, für die er sie benötigt.

Fast alles schon bekannt

Nein, ich bin kein Freund von Elon. Aber – und dies soll­ten wir uns bewusst sein – all dies wis­sen wir schon seit bald 10 Jah­ren. Zumin­dest jene, die Buch oder eine der zahl­rei­chen Kri­ti­ken gele­sen haben. Neh­men wir uns eini­ge Kri­tik­punk­te vor:

  • Musk fehlt jeg­li­che Empa­thie. Ob der Man­gel an Loya­li­tät und mensch­li­cher Bin­dung auf sein angeb­li­ches Asper­ger-Syn­drom zurück­zu­füh­ren ist, ist offen.
    „Er weiß nur, was zum Teu­fel er erle­digt haben möch­te. Wer sich an die­sen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stil nicht gewöh­nen konn­te, dem erging es nicht gut.“
  • Musk agiert rück­sichts­los bezo­gen auf Mit­ar­bei­ten­de. Er feu­ert hoch­ran­gi­ge Füh­rungs­kräf­te – selbst lang gedien­te – Ver­trau­ens­per­so­nen, wenn sie nicht mehr sei­nen Vor­stel­lun­gen ent­spre­chen oder deren Leis­tun­gen er unter­durch­schnitt­lich fin­det.
    „Ich wür­de sagen, dass die Leu­te sehr viel Zeit für ihre Fami­li­en haben wer­den, wenn wir plei­te sind.“ (Elon Musk)

  • Musk kon­tak­tiert Mit­ar­bei­ten­de auch ger­ne am Wochen­en­de und erwar­tet dann von ihnen, dass sie sofort in der Fir­ma erschie­nen – selbst wenn sie bei­spiels­wei­se gera­de bei der Geburt ihres Kin­des dabei sein wol­len.
    „Sie müs­sen klä­ren, wo Ihre Prio­ri­tä­ten lie­gen. Wir ver­än­dern die Welt und die Geschich­te und ent­we­der sind Sie dabei oder nicht.“ (Elon Musk)
  • Musk for­der­te von sei­nen Mit­ar­bei­ten­den immer Höchst­leis­tun­gen. Nur die bes­ten und über ihre Gren­zen hin­aus­ge­hen­den kön­nen einen Arbeits­platz haben.

  • Musk droh­te eben­falls bereits an, Tes­la und SpaceX aus finan­zi­el­len Grün­den zu schlie­ßen, wenn nicht bestimm­te Erfol­ge erreicht wer­den. Tes­la soll­te – so die Idee damals – an Goog­le ver­kauft wer­den.
    (Btw: Auch Twit­ter soll­te in den Kri­sen­zei­ten der Ver­gan­gen­heit mal an Goog­le gehen.)
  • Musk „wech­selt sei­ne PR-Mit­ar­bei­ter noto­risch schnell aus“ bzw. ver­brauch­te „mit fast schon komi­scher Effi­zi­enz“ PR-Per­so­nal. Auch bei Tes­la strich der Kon­troll­freak ab und an die Pres­se­stel­le und ver­fass­te selbst „kämp­fe­ri­sche Tex­te“, um kri­ti­sche Behaup­tun­gen zu widerlegen.
  • Musk hat­te schon immer Zwei­fel am Bör­sen­gang sei­ner Unter­neh­men, da er auf die­se Wei­se die voll­stän­di­ge Kon­trol­le ver­lie­ren könnte.

Ein Zei­chen von Doppelmoral

Nicht, dass ich die­se Wesens­zü­ge posi­tiv fin­de. So wün­sche ich mir kei­nen CEO. Nur: Die Mit­ar­bei­ten­den hat­ten schon damals „kei­ner­lei Illu­sio­nen über Musks Per­sön­lich­keit, aber höchs­ten Respekt für sei­ne Visi­on und Dyna­mik bei ihrer Umset­zung“. Auch das steht in der erwähn­ten Biografie.

War­um ich das hier her­vor­kra­me: All die­se Aus­sa­gen sind damit 7 Jah­re alt. Wenn ich mich par­al­lel dazu an mei­ne Twit­ter- und Lin­ke­dIn-Time­lines vor 12 bis 24 Mona­ten erin­ne­re, dann fra­ge ich mich heute:

  • Was ist mit den Per­so­nen, die Musk als neu­en Revo­lu­tio­när, als Gott der Mobi­li­tät, als Vor­den­ker, als Mes­si­as der Elek­tro­mo­bi­li­tät in den Him­mel geho­ben haben?
  • Was ist mit den Per­so­nen gera­de aus Poli­tik, Wirt­schaft und Medi­en, die sich mit ihm als „Rock­star“ unbe­dingt in der Öffent­lich­keit zei­gen wollten?
  • Was ist mit den Per­so­nen, die sei­ne revo­lu­tio­nä­re Den­ke lob­ten und kürz­lich erst jubel­ten, als Musk in Bran­den­burg ein Tes­la-Werk eröffnete?
  • Was ist mit den Per­so­nen, die vor weni­gen Jah­ren stolz auf Twit­ter ver­kün­det hat­ten, dass sie die ers­ten sei­en, die einen Tes­la Model S bestellt hätten?
  • Was ist mit den Per­so­nen, die ins­be­son­de­re in den Jah­ren 2020 und 2021 die Tes­la-Aktie als Lieb­lings­pa­pier aus­er­ko­ren, wie sich dem Ran­king der belieb­tes­ten Akti­en 2021 ent­neh­men lässt, bevor die Aktie 2022 abstürzte?

War­um also jetzt?

Wo sind die alle denn geblie­ben? Sind sie mit ihren Mei­nun­gen unter­ge­taucht, weil die­se der­zeit nicht mehr en vogue sind? Oder haben sie alle umge­dacht und loben sich jetzt dafür, Twit­ter gegen Musk zu ver­las­sen? Nur – und das fra­ge ich mich aktu­ell: Woher kommt die­ser plötz­li­che Umschwung? Woll­ten wir damals alle ein­fach nur die Augen ver­schlie­ßen? Weil wir fas­zi­niert waren von Fort­schritt, Inno­va­ti­on, ja Revo­lu­ti­on und weil wir des­halb über vie­les hin­weg­ge­se­hen haben? Müss­ten wir uns dann nicht selbst viel tie­fer hinterfragen?

„Twit­ter und Tes­la, das sind doch zwei unter­schied­li­che Dinge.“ 

Das lese ich häu­fig. Moment. Ja. Aber immer noch der­sel­be Kopf, Elon Musk. Nur mit dem Unter­schied, dass er Tes­la – mehr oder weni­ger – mit­ge­grün­det und Twit­ter gekauft hat.

Elon Musk = »Hass­fi­gur der Spie­ßer«

Wie gesagt: Sein aktu­el­les Twit­ter-Geba­ren ist eine 1‑zu-1-Kopie sei­ner frü­he­ren Pro­jek­te, sein Ver­hal­ten nicht nur durch das Buch bekannt. Und die­ses lag kei­nes­wegs nur in Pusemuckel auf dem Gaben­tisch neben der Toi­let­te; es stand immer­hin als Spie­gel-Bestel­ler auf der Short­list zum Deut­schen Wirt­schafts­buch­preis 2015 und wur­de extrem häu­fig ver­schenkt, rezen­siert, beschrie­ben, ver­linkt – im Netz und in den Social-Media-Blasen.

»Hass­fi­gur für deut­sche Spie­ßer« beti­tel­te Mir­na Funk ihr Por­trät über Elon Musk für die Welt. Weil er für alles ste­he, was Deutsch­land nicht begrif­fen hät­te. Etwas platt für mich. Ich hof­fe, dass die Autorin damit nicht recht hat. Statt­des­sen soll­te sich bes­ser jeder und jede ein­ge­hend ein Bild von die­ser Per­son machen, bevor es in den Love- oder Hate-Kalen­der gepackt wird. Dazu lie­fert das Buch eini­ges an Ant­wor­ten –für die Elon-Jün­ger, für die Musk-Mora­lis­tin­nen und für die Men­schen dazwischen.

Wir benö­ti­gen mehr Grau. Punkt.

Sascha Lobo schreibt auf Mast­o­don: „Ich hof­fe, dass ich mich irre. Aber ich glau­be nicht, dass Mast­o­don Twit­ters Platz ein­nimmt.” Ich auch nicht, wie ich in mei­nen 15 The­sen für das Jahr 2023 aus­ge­führt habe. Aber wird Twit­ter über­le­ben? Wahr­schein­lich. Aber in einer ande­ren Form, als wir es aktu­ell ken­nen. Nur wie es spä­ter kon­kret aus­schaut, das wis­sen wir alle noch nicht: 

  • ob mit 280 oder 4.000 Zeichen, 
  • mit oder ohne blau­en Haken, 
  • mit oder ohne Pressestelle, 
  • mit oder ohne poli­ti­sche Wer­bung, Shadow-Ban­ning oder Com­mu­ni­ty Notes, 
  • mit oder ohne Links zu ande­ren Social-Media-Plattformen, 
  • mit Elon oder einem ande­ren CEO an der Twitter-Spitze.

Dar­um mei­ne fina­le Emp­feh­lung: “Keep calm and don’t over­act.” Denn flie­hen kön­nen wir immer noch. 

Vor län­ge­rer Zeit habe ich ein län­ge­res Plä­doy­er für „mehr Grau in der Spra­che“ gehal­ten. Auch das hier ist ein Bei­spiel, war­um wir es so drin­gend benö­ti­gen. Also etwas Her­un­ter­kom­men von den radi­ka­len Posi­tio­nen; etwas mehr Offen­heit und Dia­log wagen; etwas weni­ger schwarz, weni­ger weiß, son­dern mehr grau – auch als Bei­trag für ein fried­vol­le­res neu­es Jahr, nicht nur in den sozia­len Medien.

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