„Die Wahrheit ist oft nicht schematisch und nicht einfach nur gut oder schlecht. Sondern sie ist sehr grau und kompliziert und widersprüchlich!“. So die Journalistin Khuê Phạm im Zeit-Podcast Verbrechen vom 22. August 2023. Anlass des Gespräches war ihr Porträt von Kevin Spacey – im Zusammenhang mit den Vorwürfen sexueller Übergriffe, von denen er schließlich freigesprochen wurde. Daraufhin war die Zeit-Reporterin für ihren Text von Leserinnen und Lesern persönlich massiv angegriffen worden.
Die interessante Diskussion in einem meiner Lieblings-Podcasts hat mich nachdenklich gemacht, sehr nachdenklich. Und mich an meinen zwei Jahre zurückliegenden Beitrag erinnert, den ich damals hier im Blog publiziert hatte. Der Titel: „Unsere Sprache braucht mehr grau.“
Hat diese Aufforderung an Relevanz verloren? Ich glaube nicht – ganz im Gegenteil. Zeit also für einen Relaunch des alten Beitrages. Das Ergebnis: Ein Gedankenspiel über die Sprache als Element der Entfernung und der Näherung.
Der damalige Anlass war die Diskussion um die verunglückte Kampagne #allesdichtmachen. Dazu schrieb ich:
„Unsere Diskussionskultur ist kaputt. Völlig kaputt. Wir kennen nämlich nur noch schwarz oder weiß, gut oder böse, dafür oder dagegen. Grautöne? Fehlanzeige. Dabei machen diese doch unser Zusammenleben aus, oder?!“
Für uns oder gegen uns?
Damals war es ein kleines Plädoyer für die wunderbare Farbe Grau. Heute, zwei Jahre später, habe ich das Gefühl, dass wir dieses Grau in all seinen Facetten noch viel dringender benötigen. So heißt es auch im Zeit-Podcast: Die Angriffe auf die Zeit-Reporterin hätten mal wieder deutlich gemacht, wie unsere Debatten derzeit verlaufen: „sehr hitzig, sehr schnell, sehr impulsiv, auch schematisch – das ist gut, das ist schlecht.“ Wahre Worte.
Die Menschen hierzulande denken offenbar und immer stärker ausschließlich in Kategorien: Gut – schlecht, nett – böse, schwarz – weiß, Lover – Hater, Unterstützer – Gegnerin. Einfach gesagt: Bist du nicht für uns, dann bist du gegen uns. Stimmst du mir nicht zu, gehörst du zu den anderen. Bist du nicht meiner Meinung, liegst du falsch. Ist das unsere sogenannte und immer wieder beschworene lösungsorientierte Kommunikation? Nicht wirklich.
Diese Fragen betreffen alle Bereiche der Gesellschaft. Wer in die Politik blickt, findet die glühenden Habeck-Verfechter auf der einen Seite, und auf der anderen Menschen, die diese Regierung sofort vom Hof jagen würden. Wenn du nicht sofort aufs Fliegen verzichtest, bist du schuld am Klimawandel. Wenn du nicht Geflüchtete »Welcome Refugees« heißt, bist du ein AfDler. Und wenn du die Klimakleber kritisierst, bist du in der alten Welt verhaftet und sicherlich ein Boomer. Diese Liste ließ sich endlos weiterführen – auf beiden Seiten der Farbe. Sie verdeutlichen alle, dass es um die hiesige Diskussionskultur nicht wirklich gut bestellt ist.
Radikalisierung stärkt äußere Ränder
Wir bestimmen, was richtig oder was falsch ist, sammeln um uns herum die zustimmenden Personen und verbannen alle auch nur etwas Andersdenkenden auf die andere Seite. Bringt uns das weiter? Nicht wirklich. Schon vor zwei Jahren schrieb ich:
„Die Beispiele verdeutlichen, wie stark Sprache und Wörter die Gesellschaft spalten können. Und zwar massiv. Davon profitiert niemand. Ganz im Gegenteil. Wir entfernen uns immer stärker voneinander. Freunde werden zu Gegner, Nachbarn beäugen sich misstrauisch, Freunde werden sprachlos.“
Heute bin ich fester denn je davon überzeugt, dass genau diese radikale Denke zu einer Stärkung der äußeren Ränder führt(e). Bitte nicht falsch verstehen: Dies heißt nicht, dass wir alle unsere Ideale, unsere Überzeugungen über Bord werfen sollten. Jeder und jede muss eigene und sehr klare Grenzen ziehen.
Aber bringt uns solch eine Schwarz-Weiß-Haltung in einer immer komplizierter werdenden Gesellschaft wirklich weiter? Wo werden diese Menschen denn dann aufgefangen? Kommen sie überhaupt wieder zurück? Und rückblickend gefragt: Hat Ausgrenzung jemals geholfen? Nein. Das kann jeder und jede täglich an der Stärkung der äußeren Ränder beobachten, in die sich die zwischen Tiefschwarz und Blütenweiß Verlorenen und Verstoßenen flüchten und von menschlichen Rattenfängern gebündelt werden. Was ist mit den berühmten Zwischentönen, den Grautöne, die für unsere Kommunikation so wichtig sind?
Lernen von Kindern
Dieses Verhalten – „wenn du uns nicht 100%ig folgst, gehörst du nicht zu uns“ – hat etwas zutiefst Kindliches für mich. In Gruppen von Kindern ist es nämlich weit verbreitet. Also dieses Gefühl, plötzlich aus einer Gruppe, von den besten Freundinnen ausgeschlossen zu sein. „Du darfst jetzt nicht mehr mitspielen“, hieß es noch in der früheren Kindheit. Bei den etwas Älteren klingt das dann so wie: „Du bist jetzt aus unserer WhatsApp-Gruppe raus.“ Ein Drama für viele junge Menschen, die auf der FOMO-Welle schwimmen.
Das war übrigens schon immer so. Auch in meiner Kindheit (wenn auch ohne WhatsApp). Nur das Besondere dabei: Die meisten haben sich bald schon wieder vertragen. Ja, die meisten. Und wir Erwachsene? Wir grenzen andere aus, weil wir deren Meinung nicht akzeptieren.
„In westlichen Gesellschaften macht sich ein gefährlicher Trend bemerkbar“, hieß es im Handelsblatt Newsletter. Meinungsfreiheit sei „nur bei denen gut zu finden, die derselben Meinung sind“.
Innerhalb der letzten zwei Jahre hat sich dieser Trend weiter radikalisiert – und in Deutschland gerne verbunden mit dem erhobenen Zeigefinger. Die heftigen Diskussionen um Corona-Impfungen, um die Aufnahme von Geflüchteten, um die Unterstützung von Kriegen, um die Aktionen der letzten Generation, um Verbot- und Erlaubnis-Kulturen – all dies hat zu dieser Radikalisierung beider Seiten beigetragen.
Die gespaltene Gesellschaft
Dabei sind wir noch nicht am negativen Höhepunkt angekommen: Wenn ich mir gerade die steigenden internationalen Flüchtlingszahlen ansehe, die ergebnislosen Diskussionen über den Umgang mit Zuwanderer, den nicht gerade überraschenden und selbst verursachten Aufstieg der AfD, die Verunsicherung vieler Menschen, die klare Handlungen fordern: All dies sind zentrale Herausforderungen an unsere Gesellschaft, die dringend zu lösen sind. Stattdessen vertiefen sich die Gräben weiter, dringen die Themen immer stärker in die Gesellschaft und die Köpfe der Menschen ein.
„Es ist ein Pulverfass, auf dem wir sitzen“, sagte Berlins Regierender Bürgermeister, der CDU-Politik Kai Wegner kürzlich zum Ausmaß der Geflüchteten in Berlin.
Wie wird denn dann unsere Sprache klingen? Wird da nicht jedes bisherige Weiß zu blütenweiß? Jedes Schwarz noch tiefschwarzer?
Wann stehen die Grauen auf?
Leider sehe ich in den nächsten Jahren viel Gefahrenpotenzial: Potenzial für eine komplette Spaltung unserer Gesellschaft, für eine weitere Entfremdung der Menschen, aber auch für eine Sprachlosigkeit der Ausgleichenden, die sich wie ein stummer Ball zwischen zwei lauten Seiten hin- und hergeworfen fühlen und gar nicht mehr wissen, wie es weiter geht. Weil sie auch in ihrer großen Mehrheit die Klappe halten. Leider.
Genau diese Ausgleichenden sind die Grauen. Diesen geht es wie der Farbe selbst: Dauerhaft befinden sie sich in einem fortwährenden Spannungsverhältnis zwischen Schwarz und Weiß. Dabei ist die Farbe so reich an Hunderten von Nuancen – vom Dunkel- bis zum Hellgrau, also vom Grau, das dem Schwarz näher steht, ohne das Weiß ganz außer Acht zu lassen – und umgekehrt.
Die Farbe Grau kann so schön sein!
Sollen wir nicht dringend die „More than 50 shades of Grey“, also die verschiedenen Ausprägungen der grauen Sprache, nutzen, um zwischen beiden Seiten zu moderieren und auf alle einzuwirken? Und sie somit vielleicht nicht zusammenführen, aber zumindest nicht noch weiter auseinanderbrechen lassen?
„Genau diese Farbe müssen wir wieder dringend in uns entdecken“, schrieb ich in meinem früheren Blog-Beitrag. Und dies ist nötiger und dringender als je zuvor. Einfach gesagt: „Wir müssen wieder verstärkt die Töne in der Sprache zulassen, die nicht zu unserem Schwarz oder Weiß gehören – ohne aber unseren eigenen Wertekanon zu verlassen.“
Grau kann eine solch tolle Farbe sein – in allen Gesprächen: So eine zentrale Verbindung zwischen schwarz und weiß. So ausgleichend zwischen zwei Polen. So reich an starken Nuancen in alle Richtungen: Kühl und warm, dunkel und hell, zurückhaltend und exzentrisch, mit Hunderten von Abstufungen. Vor allem kommen all diese miteinander gut aus. Ist die Farbe Grau nicht ein Vorbild? Ansonsten bewegen wir uns nur noch in unserer kleinen Blase, – die ich in einem anderen Gedankenspiel hier beschrieben habe –, mit den anderen Blasen als Gegenbild und einer Gesellschaft in feindlichen Lagern.
Wollen wir wirklich so leben? Ich nicht.