LinkedIn oder das (Un-)Leben in Blasen

20.06.2023

Vor knapp einem Monat war die Aufregung groß über einen Welt-Artikel. Vor allem auf LinkedIn. Sein Titel: »Das Ende der Leistungsgesellschaft naht«. Weil laut der Autorin Emotionen wichtiger als Leistung sind – gerade im Epizentrum namens LinkedIn. Wer sich die positiven Reaktionen auf den Beitrag auf der Welt-Webseite ansieht, bekommt ein ganz anderes Bild. Leben wir also wirklich auf LinkedIn in einer Blase? Ich denke ja – immer stärker.

 »Für die berufliche Online-Identität sind heute Emotionen wichtiger als Leistung (…). Likes von Fremden zählen mehr als Kritik von Kollegen. Die Karriere-Plattform LinkedIn ist das Epizentrum dieses Phänomens, wo die intellektuelle Kapitulation der Leistungsträger stattfindet.«

Dies schrieb Franziska Zimmerer, Ressortleiterin Community & Social.

Auf LinkedIn sorgte ihr Beitrag für viel Häme und Kritik. Und auf Welt.de selbst? Fast einhellige Zustimmung. 2.681 teilten die Meinung der Autorin unter dem Welt-Artikel, 221 nicht, also knapp 10 %. Mhhh. Hat sie vielleicht recht? Ich glaube schon.

Auf dem Laufsteg der Eitelkeiten

Gut lässt sich beobachten, wie sich LinkedIn in den letzten ein bis zwei Jahren immer stärker auch zu einem Laufsteg der Eitelkeiten entwickelt hat: Die inspirierenden Erfolgsgeschichten, mit den hypersympathischen Kundinnen, vom besten Arbeitgeber der Welt, über das Aufstehen nach Misserfolgen und Rückschlägen und dem eigenen Weg, wie ich mich und meine Familie aus einer Krise befreite.

Meist werden diese Beiträge garniert mit rührender Emotionalität oder aber inspirierendem Pathos und begleitet von einem Porträt, das möglichst natürlich in die Kamera blickt (wie bei der Welt-Autorin übrigens selbst 😉) – oder – ganz angesagt – aus einer KI-Werkstatt herstammt. Gepusht von einem Algorithmus, der Beiträgen mit Porträts eine größere Sichtbarkeit gibt – auch weil wir alle auf Bilder abfahren.

In einer Welt der aktuellen Krisen und Bedrohungen scheint (nur) auf LinkedIn eine wahre Goldgräberstimmung zu herrschen, Tag und Nacht, rund um die Uhr – Expertise für jedes Thema, wie Thomas Hutter schreibt. Eine Welt der eigenen Erfolge und bemerkenswerten Storys. Und dies mit teils hohen Abrufzahlen.

Intellektuelle Kapitulation

  • Ist LinkedIn also eine Scheinwelt? Ein Paradies der Selbstdarstellung und Oberflächlichkeit? Und wir wollen uns von den Illusionen einfach berauschen lassen?
  • Hat eine gut ausgebildete Masse wirklich beschlossen, „dass Selbstdarstellung ihrer Arbeit wichtiger ist als die eigentliche Leistung“, wie Valerie Wagner kommentiert? Dass in einer von Krisen geplagten Welt Emotionen und Empfindsamkeiten mehr als Ratio und Aufklärung zählen und dass die Bestätigung von (new) Friends & Partners erstrebenswerter als Kritik, Reibung, Aufklärung?
  • Dass die Leistungsgesellschaft also intellektuell kapituliert hat, was Zimmerer als »LinkedInisierung« bezeichnet? 

Ich hoffe nicht!

Denn wollen wir auf LinkedIn nicht eigentlich den inhaltlichen Austausch? Sprechen wir nicht vom Themensetting? Von der Positionierung als Expertin? Von der fachthematischen Auseinandersetzung?

Ich weiß: Über Hashtags sowie das Ein- und Ausblenden von Beiträgen und Accounts kann ich mir meine Timeline gestalten und auf meine eigenen Wünsche ausrichten. Trotzdem bleibt diese Entwicklung sichtbar.

Das Blasenleben geht inhaltlich weiter

Apropos inhaltliche Auseinandersetzung: Natürlich hat sich auf LinkedIn eine Diskussionskultur entwickelt. Solange man einer Meinung ist. Wenn ich mir viele Kommentarverläufe ansehe, dann gilt: Wer nicht dafür ist, ist eine Gegnerin. So wie in jeder Blase. Und davon gibt es eine Menge. Wer gegen das Gendern ist, wird entfolgt. Wer nicht grün und rot kommuniziert, verliert an Followern. Wer dem Abgesang auf Habeck folgt, ist ein Gegner der Moderne. Ich überziehe bewusst etwas. Aber nur etwas.

Ist LinkedIn also die oft erwähnte links-politische Blase der digitalen Gesellschaft? Im Unterschied zu den eher konservativen Blasen auf Facebook, Twitter und natürlich Telegram? In meiner Blase scheint dies auf jeden Fall so zu gelten.

Filterblasen der Aufmerksamkeitsgesellschaft

Ja, wir leben bei LinkedIn in einer Blase. Zusammen mit weiteren 19 Mio. Mitgliedern aus dem DACH-Raum, von denen aber nur ein geringer Prozentsatz aktiv ist. Und noch einmal: Hat sich diese Gemeinschaft von der Bevölkerung entfernt? Zumindest spiegeln Studien wie die ARD-ZDF-Onlinestudie (=> Meine wichtigsten Ergebnisse) und der D21-Digital-Index (=> Meine Gedanken dazu) eine gespaltene Gesellschaft wider, wenn beispielsweise über ein Viertel in der Digitalisierung sogar eine Gefahr für die Demokratie sieht.

Die digital affinen, fortschrittlichen, aber begrenzt wirtschaftsfreundlichen Menschen also auf LinkedIn? Die zurückgebliebenen Weißhaarigen bei den Talkshows und bei Facebook? Das wäre wieder viel zu einfach gedacht. Es verdeutlicht nur, dass sich unser Land immer stärker in die Filterblasen der Aufmerksamkeitsgesellschaft aufzuteilen scheint. Und jede Rechenschaft sich nur ihrer eigenen Blase gegenüber verpflichtet fühlt.

Mangel an Kommunikation

Diese Blasen wären weit weniger schlimm, wenn wir uns verstehen und wir nicht so weit voneinander entfernt stehen würden. Dafür mangelt es an der Kommunikation, da viele konträren Gruppen nicht miteinander reden. Wenn sich selbst die Generation TikTok und die LinkedIn Community etwas verständnislos gegenüberstehen, wie Ralf Scharnhorst schildert, wenn also nicht einmal die User von zwei der größten Social Media Communitys – ja, Communitys, also etwas mitsprechen, austauschen, kommentieren, streiten, loben, lieben – dies können, wie sieht es dann mit anderen Blasen aus? Wie sollen wir dann uns verständigen?

„Ein bewusster Umgang miteinander würde uns auf allen Social-Media-Plattformen guttun“, kommentiert Katja Evertz richtig. „Nur funktionieren und vor allem reagieren wir so nicht.“ Richtig. Stattdessen machen es sich viele zu einfach, wie sie weiter schreibt. »Man kann LinkedIn und Co. natürlich vorwerfen, sie würden uns mit den Algorithmen manipulieren. Damit so ein Spiel funktioniert, braucht es immer auch die Menschen, die mitspielen, oder?«

Und die Lösung?

Vor fast genau zwei Jahren habe ich einen Artikel über die Farbe Grau und die dringliche Notwendigkeit geschrieben, sie wieder in uns allen neu zu entdecken. Meine Forderung: „Unsere Sprache benötigt dringend mehr Grau.“

„Wir müssen verstärkt die Töne in der Sprache zulassen, die nicht zu unserem Schwarz oder Weiß gehören – ohne aber unseren eigenen Wertekanon zu verlassen. Folglich müssen wir miteinander sprechen, viel stärker anderen zuhören, sie verstehen zu versuchen, also gemäßigt miteinander diskutieren, einander kritisieren und Eingeständnissen Respekt zollen. Ansonsten bewegen wir uns nur noch in unserer kleinen Blase.“

 Dies gilt bis heute. Auch auf LinkedIn müssen wir uns darauf wieder stärker einlassen, auch die Meinungen anderer nicht unbedingt gutheißen, aber zumindest akzeptieren. Denn dann kann aus diesen Netzwerken wirklich wieder eine Debattenplattform werden – und keine Plattform der Selbstdarsteller, die niemand von uns wirklich voranbringt – ob in Karriere oder im Leben. 

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