Die Stadt im digitalen Wandel: Warum wir radikal umdenken müssen

21.04.2023

Vor gut zwei Jahren hatte ich geschrieben, dass nicht Corona die Innenstädte verändert. Sondern unser Verhalten in digitalen Zeiten. Also wir alle selbst. Jetzt habe ich den Beitrag nochmals angepackt. Da ich ihn heute für wichtiger empfinde als zu Corona-Zeiten. Weil er aufzeigt, wie schnell sich im digitalen Wandel etwas verändert. Ein Gedankenspiel über die Folgen verschlafener Digitalisierung. Oder: Hallo digitaler Wandel.

»Büros stehen leer. Wohnungen werden gebraucht. Die Umwidmung von Gewerbeflächen könnte die Wohnungsknappheit in Deutschland lindern. Experten haben ausgerechnet, dass so 45.000 Wohnungen entstehen könnten. Doch oft scheitern die Ideen an fehlenden Genehmigungen und rigiden Bauvorschriften.« 

So schreibt Gabor Steingart in meinem derzeitigen Lieblings-Newsletter, dem Morning Briefing.

Über Leerstand und Verödung von Innenstädten wurde bereits vor 2 Jahren diskutiert. Damals wurde dem Virus die Schuld gegeben: „Unsere Innenstädte sterben wegen Corona aus“. Ähnlich formuliert es daher heute das AI-Tool Merlin: »Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Innenstädte sind signifikant und werden in den kommenden Jahren eine neue Realität schaffen

Kein Wandel nach Corona

Die Schuldzuweisung an den Virus war schon damals Quatsch. In meiner Vision für das Jahr 2030 schrieb ich dazu: »Das können nur Menschen behaupten, die die letzten 20 Jahre mit blickdichten Scheuklappen herumgelaufen sind.« Die Pandemie war ein Verstärker. Mit Sicherheit. Mehr aber nicht.

 Dafür reicht ein Blick in das Heute. Ist jetzt alles „back to normal“, seitdem die Corona-Zeiten – offiziell – beendet sind? Wer durch die Innenstädte läuft, hat die Antwort vor Augen: Die Zahl der Pleiten ist gestiegen, die Zahl der überfüllten Straßen und Plätze zurückgegangen, die Zahl der „Schlussverkauf“-Schilder gewachsen, und die Klagen der Geschäftsleute über geringere Umsätze sind dagegen deutlich zu vernehmen. Denn Einkaufsstraßen verlieren immer mehr Menschen, Flaneure, Käuferinnen, Interessierte.

Digitaler Wandel erst am Anfang

Vor zwei Jahren beschrieb ich folgendes Szenario:

»Wir schreiben das Jahr 2030. Die Innenstädte haben sich im Verlauf der vergangenen zehn Jahre stark verändert. Ob die Zeil in Frankfurt am Main, die Schildergasse in Köln, die Königstraße in Stuttgart oder die Kaufingerstraße in München: Überall haben die einst das Stadtbild so dominierenden Warenhäuser, Modeboutiquen, Schuhketten, Buch- und Schmuckläden ihr traditionelles Zuhause verlassen. Die neuen Mieter sind Marken-Flagstores, Co-Working-Spaces, Kaffeeketten und Versand-Shops von Amazon & Co.«

Dominik Ruisinger

Dazu findet der Verkauf längst nur noch online statt – per App, Produkt-Scan direkt live aus dem Showroom und natürlich über die Social-Media-Kanäle wie Instagram Shopping. Dieser Vision nähern wir uns gerade in lauten Schritten. Schon heute erwarten die Kommunen mehr Leerstand und Geschäftsaufgaben, wie Studien, wie die »Deutschlandstudie Innenstadt 2022« aufzeigen. Weil die Menschen den Innenstädten und Einkaufsstraßen fernbleiben: »Noch im Herbst 2021 gaben nicht einmal 25 Prozent der Befragten an, „selten“ bis „gar nicht“ in die Innenstädte zu gehen. In diesem Sommer (2022) ist es bereits ein Drittel, also über 30 Prozent«, heißt es dazu im Business Insider.  

Amazon und das Henne-Ei-Prinzip

Dieser Verlust an Menschen und deren sinkende Kauflaune nährt Sorgen vor der Verödung der Innenstädte. Liegt dieser Verlust an Urbanität noch an Corona? Nein. Was der Pioneer-Chef Steingart skizzierte, ist ein Phänomen, das einen ganz anderen Hintergrund hat: digitaler Wandel und unser verändertes Medien- und Konsumverhalten. Es sind wir Menschen, die es einfach nicht anders wollten und wollen.

Wenn ich davon lese, dass »Amazon & Co. und Corona viele lokale Einzelhändler zur Geschäftsaufgabe zwingen«, dann hat der Autor das Henne-Ei-Prinzip nicht verstanden. Amazon & Co. haben sich nicht durchgesetzt, weil die Marke von Anfang an so stark war. Amazon & Co. haben Macht, weil wir es so wollten, weil wir es ihnen gegeben haben, weil wir die Bequemlichkeit genießen, weil wir den Service schätzen, weil uns das Ganze viel Zeit erspart, die wir anders verbringen wollen. Und weil immer mehr Menschen jeder Generation ins Netz abgewandert sind.

Und nein, ich will nicht die Großen verteidigen. Nur zeigt sich hier wieder das Thema Digitalisierung. Vereinfacht lässt sich sagen, dass unsere Innenstädte die Digitalisierung und unsere Verhaltensveränderung in digitalen Zeiten verschlafen haben. Während der Staat mit Fördergeldern und Finanzhilfen auf die bescheuerte Idee kommt, Warenhauskonzepte zu unterstützen, die schon seit Jahren ausgelaufen sind, fehlen vielfach die einfach umsetzbaren Ideen, die eine Vernetzung von vor Ort und digital verbinden.

Panik statt Ideen

Wo sind die Geschäfte, in denen man sofort seine Produkte scannen, digital bezahlen und sich nach Hause schicken lassen kann? Würde das nicht auch viel Verkaufsfläche ersparen? Stattdessen blicken alle mit Schreckens-geweideten Augen auf neue Amazon-Verteilzentren oder auf Amazon Go, auf Supermärkte ohne Kassen, wo man das nimmt, was man braucht, hinausgeht und per Amazon-Konto bezahlt. Ist das so schwer umsetzbar? Nicht wirklich. Gibt es solche Beispiele schon? Ja, sicher. Sind das viele? Nein, viel zu wenige!

Natürlich freue ich mich über Initiativen wie der Fördertopf »Digitaler und Einzelhandel zusammendenken« in NRW, der digitalen und stationären Handel zusammenführt. Aber warum erst jetzt? Solche Konzepte dauern und brauchen Zeit, heißt es immer wieder. Nein, sorry, die Zeit ist nicht mehr da, digitaler Wandel überall aber schon. Und nur als kleine Erinnerung: Dieses Internet ist heute schon 70 Jahre alt.

Radikales Umdenken nötig

Heute ist das Sterben der Innenstädte in vollem Gange. Vor allem deswegen, weil die Innenstädte sich nicht neu erfinden. Jede Krise bietet bekanntlich auch Chancen. Nur: Wann finden wir endlich den Mut, dazu, viel radikaler zu denken? Hallo digitaler Wandel?

 »Überall sterben Läden, die Innenstädte verfallen. Corona gibt vielen Orten nun den Rest. Es sei denn, Politik und Einwohner denken radikal um und erfinden ihre City völlig neu«, hieß es vor zwei Jahren im Stern.

Der Stern

Richtig. Neu denken, hieße beispielsweise, das bisherige Modell einer Trennung von Wohnen und Arbeiten zu beerdigen, nicht-kommerzielle Nutzung fördern, Büro- und Ladenflächen in Wohnungen zu verwandeln, um Wohnen und Arbeiten zum Lebensraum zu kombinieren. Nähere Arbeitsplätze, kürzere Wege, soziale Vielfalt, näheres Miteinander hießen die Folgen dieses Mix‘. Macht nicht genau dies Kieze in Großstädten so lebenswert?

Wohnen + Arbeiten = Erlebnisraum

»Es muss das Ziel sein, die Städte wieder stärker zu beleben«, schreibt der Unternehmer Michael Otto im Handelsblatt-Newsletter. »Büros, die wegen des Trends zum Homeoffice nicht mehr gebraucht werden, kann man beispielsweise zu Wohnungen umfunktionieren.«

Michael Otto

Doch warum scheitern (siehe oben) die Umwidmung von Gewerbeflächen an fehlenden Genehmigungen und rigiden Bauvorschriften? Auch als früherer Student der Architektur frage ich mich: Wo sind die vielen Vorbilder in den Städten, den Ländern und insbesondere bei Bauunternehmen, die die Folgen der Digitalisierung erkennen und radikale Ideen umsetzen? Als Vorbild für viele andere? Denn leere Büroflächen bringen auch keine Rendite. Wo ist dieser Mut zum radikalen Neuanfang?

Ohne Wasser stirbt jeder Keim der Hoffnung

In meiner positiv gestimmten Vision für Jahr 2030 prognostizierte ich diese Durchmischung:

»In einigen Läden, die einst die WMF‑, Swatch‑, H&M- und Douglas-Filialen beherbergten, haben normale Menschen ihr neues Zuhause gefunden. Wohnen und Arbeiten sind enger zusammengerückt. Der Grund: Die Innenstadt-Mieten sind nach dem Zusammenbruch des Büro-Immobilienmarktes wieder bezahlbar geworden. Schließlich sind die früheren Geschäfte verschwunden oder komplett ins Web umgezogen. Zudem haben sich viele Büros räumlich deutlich verkleinert – weil im Schnitt 50 Prozent aus dem Homeoffice herausarbeiten. Weil dies die Arbeitgeber und ‑nehmer so wollen. Und weil es seit 10 Jahren verstärkt zur Normalität gehört.«

Dominik Ruisinger

Klingt das heute so abwegig? In jeder Krise keimt immer etwas Hoffnung. Nur wer diesem Keim nicht bald etwas Wasser gibt, der wird alle Hoffnungen ersticken.

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