Coro­na ist nicht für das Ster­ben unse­rer Innen­städ­te ver­ant­wort­lich. Eine Visi­on für das Jahr 2030.

30.09.2020

Nein. Der Coro­na-Virus ist nicht an allem schuld. Wirk­lich. Auch nicht am Aus­ster­ben von Kauf­häu­sern, Geschäf­ten, Bou­ti­quen und sons­ti­gen Ein­zel­händ­lern in unse­ren Innen­städ­ten, wie ger­ne behaup­tet wird. Das kön­nen nur Men­schen behaup­ten, die die letz­ten 20 Jah­re mit blick­dich­ten Scheu­klap­pen her­um­ge­lau­fen sind. Und doch wer­den unse­re Ein­kaufs­stra­ßen künf­tig anders aus­se­hen. Weil wir es genau so wol­len. Eine rea­le Vision.

Wir schrei­ben das Jahr 2030. Die Innen­städ­te nicht nur in Deutsch­land haben sich im Ver­lauf der ver­gan­ge­nen zehn Jah­re stark ver­än­dert. Ob die Zeil in Frank­furt am Main, die Schil­der­gas­se in Köln, die König­stra­ße in Stutt­gart oder die Kau­fin­ger­stra­ße in Mün­chen: Über­all haben die einst das Stadt­bild so domi­nie­ren­den Waren­häu­ser, Mode­bou­ti­quen, Schuh­ket­ten, Buch- und Schmuck­lä­den ihr tra­di­tio­nel­les Zuhau­se längst ver­las­sen, das sie für zig Jah­re bewohnt hat­ten. Maxi­mal in Malls sind sie ver­ein­zelt zu fin­den. Die neu­en Mie­ter der bekann­ten Ein­kaufs­mei­len sind Mar­ken-Flag­s­to­res, Bau­märk­te, Kaf­fee­ket­ten und – stark im Vor­marsch – Ver­sand-Shops von Ama­zon & Co..

Und noch etwas hat sich ver­än­dert: Den direk­ten Ver­kauf gibt es in den Mar­ken-Stores schon lan­ge nicht mehr. Die Apple‑, Samsung‑, Tesla‑, Telekom‑, Nike- samt New­co­mer-Reprä­sen­tan­zen haben rein die Auf­ga­be, neue Pro­duk­te vor­zu­stel­len. Sie sind pure Show­rooms und Erleb­nis­stät­ten. Der Ver­kauf fin­det dage­gen längst nur noch online statt — oder per App und Pro­dukt-Scan direkt live aus dem Show­room. Weil es die Bewoh­ner so wol­len. Weil es so bequem für sie ist.

Arbei­ten und Woh­nen rückt zusammen

In den Cafés der Innen­städ­te trifft man sich, quatscht, bespricht die Neu­hei­ten und ordert die gewünsch­ten Pro­duk­te bei schnel­lem Inter­net direkt online. In den Ver­sand-Shops von Ama­zon, Ali­baba, Otto und Co. las­sen sich T‑Shirts, Hosen, Schu­he, Geschirr, Uhren oder Kin­der­spiel­zeug nach Bestel­lung inner­halb einer Stun­de abho­len – oder Unpas­sen­des ein­fach wie­der zurück­ge­ben. Dar­an haben die Men­schen sich längst gewohnt. Und weil auch dies so ein­fach geht.

In eini­gen Läden, die einst die WMF‑, Swatch‑, H&M- und Dou­glas-Filia­len beher­berg­ten, haben nor­ma­le Men­schen ihr neu­es Zuhau­se gefun­den. Woh­nen und Arbei­ten sind enger zusam­men­ge­rückt. Der Grund: Die Innen­stadt-Mie­ten sind nach dem Zusam­men­bruch des Büro-Immo­bi­li­en­mark­tes wie­der bezahl­bar gewor­den. Schließ­lich sind die frü­he­ren Geschäf­te ver­schwun­den oder kom­plett ins Web umge­zo­gen. Zudem haben sich vie­le Büros räum­lich deut­lich ver­klei­nert – weil im Schnitt 50 Pro­zent aus dem Home Office her­aus arbei­ten. Weil dies Arbeit­ge­ber und ‑neh­mer so wol­len. Und weil es seit 10 Jah­ren ver­stärkt zur Nor­ma­li­tät gehört.

Die Suche nach dem Schuldigen

Vie­le erin­nern sich noch an eine Pan­de­mie, die vor rund zehn Jah­ren viel beschleu­nigt hat­te. Eini­ge schrei­ben ihr bis heu­te sogar die Schuld für die­sen Wan­del und die neue Welt zu, die heu­te fast alle so schät­zen. Und dass die Innen­städ­te wegen Coro­na ster­ben wür­den. Doch das ist Quatsch. Schon damals war nicht der Virus der Ver­ur­sa­cher für das wach­sen­de Ster­ben der tra­di­tio­nel­len Geschäf­te. Er war der Beschleuniger.

Das Ster­ben der bis­he­ri­gen (Shopping-)Welt hat­te schon viel frü­her ein­ge­setzt: Weil immer mehr Men­schen jeder Gene­ra­ti­on ins Netz abge­wan­dert waren: Zum Aus­tausch von Infor­ma­tio­nen, zur Selbst­dar­stel­lung, zum Bewer­ten von Pro­duk­ten und natür­lich auch zum Kauf die­ser. Immer unab­hän­gi­ger übri­gens vom Alter. Der Virus, der die Men­schen ver­stärkt zu Hau­se gehal­ten und ihre Käu­fe ins Inter­net gescho­ben hat­te, ja, die­ser Virus hat­te die bereits ein­ge­setz­te Ent­wick­lung beschleu­nigt. Kräf­tig beschleu­nigt. Weil das Leben in die­sen Virus-Zei­ten es ein­fach ver­lang­te. Aber Schuld?

Nein. Die­se Behaup­tun­gen stamm­ten damals wie heu­te von Per­so­nen, die ihre Augen mit blick­dich­ten Scheu­klap­pen vor die­sen neu­en Ent­wick­lun­gen ver­schlos­sen gehal­ten hat­ten. Die wei­ter­hin hoff­ten, dass alles so blei­ben wür­de wie vor die­ser Kri­se. Die Angst vor die­sem wah­ren Chan­ge-Pro­zess hat­ten, den die gesam­te Gesell­schaft mit einem Schla­ge unvor­be­rei­tet getrof­fen und durch­lebt hat­te. Und die man­che bes­ser, die ande­ren schlech­ter ertra­gen konnten.

Das Ver­schla­fen von Entwicklungen

Denn wie gesagt: Die Ursa­che für das Ster­ben der Innen­städ­te lag viel wei­ter zurück — und lässt sich bis heu­te mit einem ver­än­der­ten Mediennutzungs‑, Kom­mu­ni­ka­ti­ons- wie Kauf-Ver­hal­ten beschrei­ben, wel­che das – die­se Per­so­nen wür­den jetzt sagen böse – Inter­net ver­ur­sacht hat­te. Schon damals hieß es in mei­nem Buch “Die digi­ta­le Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stra­te­gie”: “Kaum ein Unter­neh­men, kei­ne Insti­tu­ti­on kann sich dem digi­ta­len Wan­del ent­zie­hen. Nur die­je­ni­gen wer­den die digi­ta­le Revo­lu­ti­on über­ste­hen, die ihre tra­di­tio­nel­len Geschäfts­mo­del­le und Port­fo­li­os auf eine zuneh­mend digi­ta­le, indi­vi­dua­li­sier­te und unab­hän­gi­ge Kund­schaft aus­rich­ten. Ansons­ten kommt es zum Aus­ster­ben, wenn sich Tech­no­lo­gie und Gesell­schaft schnel­ler ver­än­dern als Orga­ni­sa­tio­nen in der Lage sind, sich dar­auf ein­zu­stel­len.”

Schon damals gab es die Über­zeu­gung, dass kaum ein Unter­neh­men ohne Digi­ta­li­sie­rungs­maß­nah­men wett­be­werbs­fä­hig sein könn­te, “egal in wel­chem Indus­trie­zweig”. Und schon damals gab es Beschlüs­se gro­ßer Händ­ler und Läden, ihr Fili­al­netz auf den Prüf­stand zu stel­len und sich stär­ker auf digi­ta­le Kanä­le zu fokus­sie­ren. Viel stimm­ten sol­chen Äuße­run­gen grund­le­gend zu. Aber ver­än­der­ten sie des­we­gen ihre lieb­ge­wohn­ten Ver­hal­tens­mus­ter und Denkweisen? 

Die Scheu­klap­pen der Bedenkenträger

Konn­te man die­sem Wan­del also jetzt plötz­lich die Schuld für die­sen Wan­del und das Ster­ben der Innen­städ­te geben? Einer Ent­wick­lung, die in den 1960er Jah­ren mit dem Beginn des Inter­nets begon­nen hat­te und damit also heu­te auch schon 70 Jah­re alt war? Ein Trend, der schon seit Beginn des neu­en Jahr­tau­sends Schritt für Schritt weg vom sta­tio­nä­ren Ein­kauf, hin zum Online-Shop­ping führ­te und sta­tio­nä­re Händ­ler in E‑Com­mer­ce-Unter­neh­men wan­del­te? Kann es nicht eher sein, dass bestimm­te Men­schen – und lei­der auch poli­ti­sche Ent­schei­der, Geschäfts­füh­rer und Trend-Ver­wei­ge­rer – ein­fach eine Ent­wick­lung mehr oder weni­ger ver­passt hat­ten? Und sich jetzt dar­über beschwer­ten, dass sie nicht mehr mit­ka­men bzw. nicht mehr dazu gehör­ten? Wie konn­te das nur pas­sie­ren? Das waren Fra­gen, die die­se dama­li­gen Beden­ken­trä­ger heu­te ohn­mäch­tig mit sich selbst aus­ma­chen muss­ten. Die Mehr­heit der Men­schen hat­te sich schon längst mit die­ser neu­en Ent­wick­lung arran­giert und sie als unver­än­der­ba­res Fak­tum akzeptiert.

Nein, das soll jetzt nicht hei­ßen, dass alles heu­te bes­ser ist. Oder frü­her schlech­ter war. Nein, dies war und ist wei­ter­hin ein wert­frei­er Gang der Din­ge, der schon vor ganz lan­ger Zeit ein­ge­setzt hat. Und zwar damals, als noch nie­mand an einen Virus und sei­ne unbän­di­ge Zer­stö­rungs­kraft wie sei­nen gleich­zei­tig uner­war­tet star­ken Digi­ta­li­sie­rungs­druck gedacht hat. Nur war die­ser Gang der Din­ge lan­ge Zeit nicht wirk­lich ernst genom­men wor­den, bis es plötz­lich – für vie­le – dann zu spät war.

Wie konn­te das pas­sie­ren, fra­gen sich heu­te zumin­dest die­je­ni­gen, die sich zwar lan­ge ver­wei­gert aber zumin­dest heu­te auf­ge­wacht sind? Naja, wie war das – und ich weiß, das Bei­spiel ist alt, uralt – mit den Post­kut­schen und den Pfer­den? Und der plötz­lich neu­en bedroh­li­chen Eisen­bahn? Es gibt Din­ge, wel­che die Zeit vor sich her­treibt. Weil immer mehr Men­schen an ihnen geschnup­pert und sie für begeh­rens­wert erach­tet haben. Und gegen solch star­ken Drang – ja: Wer könn­te sich dem entgegenstellen?

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