Nein. Der Corona-Virus ist nicht an allem schuld. Wirklich. Auch nicht am Aussterben von Kaufhäusern, Geschäften, Boutiquen und sonstigen Einzelhändlern in unseren Innenstädten, wie gerne behauptet wird. Das können nur Menschen behaupten, die die letzten 20 Jahre mit blickdichten Scheuklappen herumgelaufen sind. Und doch werden unsere Einkaufsstraßen künftig anders aussehen. Weil wir es genau so wollen. Eine reale Vision.
Wir schreiben das Jahr 2030. Die Innenstädte nicht nur in Deutschland haben sich im Verlauf der vergangenen zehn Jahre stark verändert. Ob die Zeil in Frankfurt am Main, die Schildergasse in Köln, die Königstraße in Stuttgart oder die Kaufingerstraße in München: Überall haben die einst das Stadtbild so dominierenden Warenhäuser, Modeboutiquen, Schuhketten, Buch- und Schmuckläden ihr traditionelles Zuhause längst verlassen, das sie für zig Jahre bewohnt hatten. Maximal in Malls sind sie vereinzelt zu finden. Die neuen Mieter der bekannten Einkaufsmeilen sind Marken-Flagstores, Baumärkte, Kaffeeketten und – stark im Vormarsch – Versand-Shops von Amazon & Co..
Und noch etwas hat sich verändert: Den direkten Verkauf gibt es in den Marken-Stores schon lange nicht mehr. Die Apple-, Samsung-, Tesla-, Telekom-, Nike- samt Newcomer-Repräsentanzen haben rein die Aufgabe, neue Produkte vorzustellen. Sie sind pure Showrooms und Erlebnisstätten. Der Verkauf findet dagegen längst nur noch online statt – oder per App und Produkt-Scan direkt live aus dem Showroom. Weil es die Bewohner so wollen. Weil es so bequem für sie ist.
Arbeiten und Wohnen rückt zusammen
In den Cafés der Innenstädte trifft man sich, quatscht, bespricht die Neuheiten und ordert die gewünschten Produkte bei schnellem Internet direkt online. In den Versand-Shops von Amazon, Alibaba, Otto und Co. lassen sich T-Shirts, Hosen, Schuhe, Geschirr, Uhren oder Kinderspielzeug nach Bestellung innerhalb einer Stunde abholen – oder Unpassendes einfach wieder zurückgeben. Daran haben die Menschen sich längst gewohnt. Und weil auch dies so einfach geht.
In einigen Läden, die einst die WMF-, Swatch-, H&M- und Douglas-Filialen beherbergten, haben normale Menschen ihr neues Zuhause gefunden. Wohnen und Arbeiten sind enger zusammengerückt. Der Grund: Die Innenstadt-Mieten sind nach dem Zusammenbruch des Büro-Immobilienmarktes wieder bezahlbar geworden. Schließlich sind die früheren Geschäfte verschwunden oder komplett ins Web umgezogen. Zudem haben sich viele Büros räumlich deutlich verkleinert – weil im Schnitt 50 Prozent aus dem Home Office heraus arbeiten. Weil dies Arbeitgeber und -nehmer so wollen. Und weil es seit 10 Jahren verstärkt zur Normalität gehört.
Die Suche nach dem Schuldigen
Viele erinnern sich noch an eine Pandemie, die vor rund zehn Jahren viel beschleunigt hatte. Einige schreiben ihr bis heute sogar die Schuld für diesen Wandel und die neue Welt zu, die heute fast alle so schätzen. Und dass die Innenstädte wegen Corona sterben würden. Doch das ist Quatsch. Schon damals war nicht der Virus der Verursacher für das wachsende Sterben der traditionellen Geschäfte. Er war der Beschleuniger.
Das Sterben der bisherigen (Shopping-)Welt hatte schon viel früher eingesetzt: Weil immer mehr Menschen jeder Generation ins Netz abgewandert waren: Zum Austausch von Informationen, zur Selbstdarstellung, zum Bewerten von Produkten und natürlich auch zum Kauf dieser. Immer unabhängiger übrigens vom Alter. Der Virus, der die Menschen verstärkt zu Hause gehalten und ihre Käufe ins Internet geschoben hatte, ja, dieser Virus hatte die bereits eingesetzte Entwicklung beschleunigt. Kräftig beschleunigt. Weil das Leben in diesen Virus-Zeiten es einfach verlangte. Aber Schuld?
Nein. Diese Behauptungen stammten damals wie heute von Personen, die ihre Augen mit blickdichten Scheuklappen vor diesen neuen Entwicklungen verschlossen gehalten hatten. Die weiterhin hofften, dass alles so bleiben würde wie vor dieser Krise. Die Angst vor diesem wahren Change-Prozess hatten, den die gesamte Gesellschaft mit einem Schlage unvorbereitet getroffen und durchlebt hatte. Und die manche besser, die anderen schlechter ertragen konnten.
Das Verschlafen von Entwicklungen
Denn wie gesagt: Die Ursache für das Sterben der Innenstädte lag viel weiter zurück – und lässt sich bis heute mit einem veränderten Mediennutzungs-, Kommunikations- wie Kauf-Verhalten beschreiben, welche das – diese Personen würden jetzt sagen böse – Internet verursacht hatte. Schon damals hieß es in meinem Buch „Die digitale Kommunikationsstrategie„: „Kaum ein Unternehmen, keine Institution kann sich dem digitalen Wandel entziehen. Nur diejenigen werden die digitale Revolution überstehen, die ihre traditionellen Geschäftsmodelle und Portfolios auf eine zunehmend digitale, individualisierte und unabhängige Kundschaft ausrichten. Ansonsten kommt es zum Aussterben, wenn sich Technologie und Gesellschaft schneller verändern als Organisationen in der Lage sind, sich darauf einzustellen.“
Schon damals gab es die Überzeugung, dass kaum ein Unternehmen ohne Digitalisierungsmaßnahmen wettbewerbsfähig sein könnte, „egal in welchem Industriezweig„. Und schon damals gab es Beschlüsse großer Händler und Läden, ihr Filialnetz auf den Prüfstand zu stellen und sich stärker auf digitale Kanäle zu fokussieren. Viel stimmten solchen Äußerungen grundlegend zu. Aber veränderten sie deswegen ihre liebgewohnten Verhaltensmuster und Denkweisen?
Die Scheuklappen der Bedenkenträger
Konnte man diesem Wandel also jetzt plötzlich die Schuld für diesen Wandel und das Sterben der Innenstädte geben? Einer Entwicklung, die in den 1960er Jahren mit dem Beginn des Internets begonnen hatte und damit also heute auch schon 70 Jahre alt war? Ein Trend, der schon seit Beginn des neuen Jahrtausends Schritt für Schritt weg vom stationären Einkauf, hin zum Online-Shopping führte und stationäre Händler in E-Commerce-Unternehmen wandelte? Kann es nicht eher sein, dass bestimmte Menschen – und leider auch politische Entscheider, Geschäftsführer und Trend-Verweigerer – einfach eine Entwicklung mehr oder weniger verpasst hatten? Und sich jetzt darüber beschwerten, dass sie nicht mehr mitkamen bzw. nicht mehr dazu gehörten? Wie konnte das nur passieren? Das waren Fragen, die diese damaligen Bedenkenträger heute ohnmächtig mit sich selbst ausmachen mussten. Die Mehrheit der Menschen hatte sich schon längst mit dieser neuen Entwicklung arrangiert und sie als unveränderbares Faktum akzeptiert.
Nein, das soll jetzt nicht heißen, dass alles heute besser ist. Oder früher schlechter war. Nein, dies war und ist weiterhin ein wertfreier Gang der Dinge, der schon vor ganz langer Zeit eingesetzt hat. Und zwar damals, als noch niemand an einen Virus und seine unbändige Zerstörungskraft wie seinen gleichzeitig unerwartet starken Digitalisierungsdruck gedacht hat. Nur war dieser Gang der Dinge lange Zeit nicht wirklich ernst genommen worden, bis es plötzlich – für viele – dann zu spät war.
Wie konnte das passieren, fragen sich heute zumindest diejenigen, die sich zwar lange verweigert aber zumindest heute aufgewacht sind? Naja, wie war das – und ich weiß, das Beispiel ist alt, uralt – mit den Postkutschen und den Pferden? Und der plötzlich neuen bedrohlichen Eisenbahn? Es gibt Dinge, welche die Zeit vor sich hertreibt. Weil immer mehr Menschen an ihnen geschnuppert und sie für begehrenswert erachtet haben. Und gegen solch starken Drang – ja: Wer könnte sich dem entgegenstellen?